INTERVIEWS

Prima Facie - Louisa Stroux mit Philipp Seidel im Interview in: LZ am 10.10.2024

 

Das Opfer wehrt sich

Die Schauspielerin Louisa Stroux über den MeToo-Monolog „Prima Facie“, der auf der ganzen Welt gefeiert wird und am Freitag im Kleinen Theater Landshut Premiere hat Eine Star-Strafverteidigerin findet sich plötzlich in der Rolle eines Opfers wieder – auf der anderen Seite der Gesetze, von denen sie einst profitierte. Doch mit dieser Rolle will sie sich nicht abfinden: Sie kämpft. Die australische Dramatikerin und Drehbuchautorin Suzie Miller, die selbst lange als Strafverteidigerin – Schwerpunkt: Sexualdelikte – gearbeitet hat, schuf mit „Prima Facie“ 2019 ein eindringliches Ein-Frauen-Stück, das seitdem die Theaterwelt erobert und praktisch alle wichtigen Preise abgeräumt hat. Sven Grunert hat es nun mit der Schauspielerin Louisa Stroux im Kleinen Theater Landshut inszeniert. Premiere ist am Freitag.

Was macht „Prima Facie“ für Sie zum Stück der Stunde?
L o u i s a S t ro u x : „Prima Facie“ wird derzeit international an fast allen großen Häusern gemacht. Es ist tatsächlich das Stück der Stunde, denn es geht um Emanzipation, es geht um sexuelle Gewalt, sexuelle Übergriffe. Die Geschichte ist so gut gebaut, weil hier eine Top-Anwältin, eine Strafverteidigerin, die das Spiel beherrscht, die schnell ist, brillant, gewitzt, selbst zum Opfer sexueller Gewalt wird – die sich aber zur Wehr setzt und versucht, nicht Opfer zu sein. Sie kämpft. Dabei durchläuft sie das ganze Rechtssystem – jetzt aber als Zeugin. Sie macht dabei ganz andere Erfahrungen. Dabei wird viel erzählt über die Gesetzgebung. Es ist auch die Geschichte einer Frau, die denkt, sie hat alles unter Kontrolle, der aber alles entgleitet. Aber durch dieses Entgleiten findet sie zu sich selber, sie findet, wie sie am Ende sagt, ihre Sprache wieder.

Das klingt so gar nicht nach einem Unterhaltungsstück, das am Londoner Westend und am New Yorker Broadway so erfolgreich ist.
S t ro u x : Das Stück fängt sehr schnell, sehr witzig  an und entwickelt dann eine ganz andere Dimension. Es hat etwas Politisches, indem es von Gesetzen erzählt, die von Männern gemacht wurden, aber auf sexuelle Übergriffe an Frauen angewendet werden. Und es zeigt, was von einem Opfer alles verlangt wird, damit es zu seinem Recht kommt, das wird Schritt für Schritt offengelegt. Zunächst aus der Perspektive einer Anwältin, die dieses System für sich nutzt, es dann aber von der anderen Seite kennenlernt. Die Botschaft ist, dass sich da was ändern muss.

Wer ist diese Tessa?
S t ro u x : Sie kommt aus einfachen Verhältnissen und hat sich durch eine tolle Ausbildung hochgearbeitet. 

Ein Monolog ist immer eine besondere Herausforderung. Sie haben Ihren Einstand am Kleinen Theater vor einigen Jahren mit „Am Boden“ gegeben.
S t r o u  x: Ich habe das Stück vor einem halben Jahr gelesen und wollte es unbedingt machen. Die Art, wie die Geschichte erzählt wird, entwickelt einen unglaublichen Sog. Ich finde, es ist ein brillantes Stück, deswegen freue ich mich sehr, dass ich es machen kann. Was mich auch gereizt hat: Das Publikum ist immer wieder direkt einbezogen, es ist eben auch eine Geschichte für Menschen – ohne dass die Zuschauer etwas machen müssen. Es gibt keine vierte Wand, man hat das Gefühl, man verhandelt das miteinander. Ich weiß durch meine Erfahrung mit „Medea“, dass das Kleine Theater für diese direkte Ansprache durch die Art des Raums sehr gut geeignet ist.

Philipp Seidel, Landshuter Zeitung, 10. Oktober 2024

 

Zwei junge Menschen treffen sich, weil sie – auf der Suche nach dem ultimativen Kick – gemeinsam aus dem Leben scheiden wollen. Laura Puscheck und Andrés Mendez spielen dieses Paar in Igor Bauersimas Stück „norway.today“ aus dem Jahr 2000, das an diesem Freitag Premiere am Kleinen Theater in Landshut hat. Inszeniert hat es Odile Simon, die das Theater schon aus frühen Jahren kennt.

Frau Simon, Sie waren Mitte, Ende der 90er Jahre als Schauspielerin und Regisseurin am Kleinen Theater und dann lange in Berlin und in Ihrer Heimat Luxemburg. Was vom alten Geist des Kleinen Theaters finden Sie heute wieder?

Odile Simon: Das gleiche Engagement, mit einem sehr großen Kraftaufwand Kultur zu machen und zu erhalten und weiterzutreiben. Das finde ich hier wieder, den gleichen kreativen Geist, und daraus etwas Kreatives entstehen zu lassen.

Sie kennen das Kleine Theater noch als Zimmertheater in der Neustadt. Wie gefällt Ihnen der heutige Standort Rottenkolberstadel?

Simon: Es ist ein sehr schönes Gebäude, die ganze Architektur, die Farben. Das Haus verspricht etwas. Die Bühne finde ich großartig, man merkt, dass da schon ganz viele Stücke über die Bühne gegangen sind. Man spürt das, wenn man in ein Haus reinkommt. Ich habe das Gefühl, dass jeder, der mal in einem Haus war, etwas von sich zurücklässt. Das macht die ganze Atmosphäre aus.

Das Stück „norway.today“ passt gut zum Kammerspiel-Charakter des Kleinen Theaters: Es geht um zwei junge Menschen, die sich in Norwegen in einem Zelt auf einer Klippe über dem Meer treffen, um gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Was treibt diese beiden, Julie und August, aus dem Leben?

Simon: Das ist ein Paradox: Indem sie aus dem Leben scheiden wollen, sind sie auf der Suche nach dem Leben. Beide treiben sich sehr viel im Internet herum auf der Suche, etwas zu erleben – und erleben eigentlich gar nichts. Auf der Suche nach dem richtigen Leben denken sie, dass sie das im Tod finden.

Das Stück basiert auf einer wahren Geschichte.

Simon: Der Autor hat eine Notiz in der Zeitung gefunden, in der sich zwei Menschen in einem Chat getroffen und tatsächlich umgebracht haben. Daraus hat er aber eine ganz andere Geschichte geschrieben, nicht diese Werther-Romantik, diese Todessehnsucht. Er erzählt von zwei jungen Leuten, die im Wohlstand aufgewachsen sind, die auch nicht depressiv sind, die auf der Suche nach dem Leben sind, paradoxerweise. Es ist erzählt mit Situations- und Dialogkomik, und der Autor zeigt, wie unsinnig und wie grotesk diese Situation ist, dass sie denken, sie finden den Kick im Tod.

Was passiert?

Simon: Schlussendlich werden die beiden auf der Suche nach dem großen Erlebnis von ganz anderen Erlebnissen überwältigt, von der Schönheit der Natur, von der Kreativität der Natur und auch von der Kraft der Liebe, gegen die sie sich nicht wehren können. Da merken sie zum ersten Mal: Es gibt echtes Leben im Leben. Im Stück werden viele Fragen aufgeworfen: Was ist der Sinn des Lebens? Was ist echt, was ist fake? Was ist Realität, was ist Langeweile? Das Stück ist mehr als 20 Jahre alt, wurde in 20 Sprachen übersetzt – ist aber sehr aktuell, weil diese Internet-Realität immer bedeutender und immer absurder wird. Julie und August wollen die letzten Momente mit der Kamera aufzeichnen. Sie merken, wie schwer das ist, dieses Reale ins Virtuelle umzusetzen, und scheitern letztlich daran.

Wie geht das Stück mit dem schwierigen Thema Selbsttötung um?

Simon: Es ist keine Anleitung zum Suizid, sondern es wirft Fragen auf. Als Goethe seinen Werther geschrieben hat, haben sich tatsächlich viele Menschen umgebracht. Das war die Zeit der Romantik, da hat man die Todessehnsucht gepflegt. Aber Igor Bauersima hat das Stück mit einer ironischen Distanz geschrieben, so dass man gar nicht auf die Idee kommt, das, was die beiden vorspielen, imitieren zu wollen. Es ist im Grunde ein Plädoyer fürs Leben.

Odile Simon mit Philipp Seidel, in: LZ, 3.5.2024

Von der freien Theatergruppe übers feste Haus zur Institution: Sven Grunert feiert in Landshut sein 30-jähriges Bühnenjubiläum als künstlerischer Leiter, Regisseur und Intendant des Kleinen Theaters: 30 Jahre – 30 Fragen
 
1. Barfuß oder Lackschuh?
Barfuß natürlich! Ein Fußabdruck im Sand, eine Welle, die einen Weg vorgibt. Spuren hinterlassen.
 
2. Das Wichtigste, was Ihnen Giorgio Strehler am Piccolo Teatro Mailand mit auf den Weg gegeben hat?
Zwei Einsichten: „Liebe ist kein Wort, es ist ein ganzes Konzept: Liebe zum Theater, Liebe zum Leben, Liebe zum Theaterleben.“ Die zweite: Dass es normal ist für einen Regisseur, ab und zu „ver-rückt“ zu sein.
 
3. Was braucht man für die Gründung eines Theaters?
Einen Scheinwerfer, eine Monatsmiete für einen 100-qm-Raum, ein Ensemble von 5 SchauspielerInnen, ein tolles Stück, eine mitreißende Inszenierung, Enthusiasmus, Mut und Bereitschaft zur Ver-rücktheit!
 
4. Was vermissen Sie aus den Anfangstagen im Hinterhaus in der Neustadt 455?
Das Feiern nach den Proben. Und das Umherziehen in der Stadt zwischen dem Bistro „Le Clou“ und der Disko „Bauhaus“.
 
5. Vor der Premiere: Meditation oder doppelter Espresso?
Weder noch. Ich genieße ganz einfach die Präsenz der Abwesenheit.
 
6. Nach der Premiere: Wasser oder Wein?
Wein predigen, Wein ernten, Wein trinken. Vielleicht kann ich es etwas präziser ausdrücken: Wein predigen bei den Proben, Wein ernten bei der Premiere, danach Wein trinken. Ganz im Geiste von Dionysos.
 
7. Wie oft haben Sie sich die Sicherheit eines festen Ensembles am Haus gewünscht?
Eigentlich hatte ich immer ein festes, genau gesagt: „festes freies“ Ensemble. Viele meiner Schauspielerinnen und Schauspieler sind dem Haus seit Jahrzehnten verbunden. Diese Kontinuität ist eine Grundlage meiner künstlerischen Arbeit.
 
8. Haben Sie noch einen Überblick, wie viele Stücke Sie im Kleinen Theater gezeigt haben?
Um die 200 Stücke und 60 eigene Inszenierungen von Shakespeare über Strindberg und die Klassiker der Moderne bis zum zeitgenössischen Theater.
 
9. Ihr Lieblingsort im Kleinen Theater?
Immer dort, wo ich gerade bin und zu tun habe. Brauche ich einen Rückzugsort, findet man mich in meinem James-Joyce-Raum unter dem Dachgiebel.
 
10. Ihre legendäre Trainingsjacke als Alltagsgarderobe scheint der Wolljacke gewichen zu sein – ein Zeichen der Reife?
Meist trage ich unter der Wolljacke immer auch eine Trainingsjacke.
 
11. Ein Stück, das Sie gerne früher auf den Spielplan gesetzt hätten?
Die „Dreigroschenoper“ 1998 zur Eröffnung der neuen Kammerspiele Landshut in der Bauhofstraße wäre sicher ein Knaller gewesen.
 
12. Die treffendste Beleidigung, mit der Sie ein Schauspieler oder eine Schauspielerin in den 30 Jahren bedacht hat?
Im Theater wurde ich, ehrlich gesagt, noch niemals beleidigt. Man ging sich höchstens nach harten Auseinandersetzungen höflich aus dem Weg. 
 
13. Welcher Raum im Rottenkolberstadel, in dem das Theater untergebracht ist, ist immer zu klein?
Unser kleines Großraumbüro.
 
14. Wann haben Sie zuletzt daran gedacht, alles hinzuschmeißen?
Hinschmeißen kenne ich nicht, mein Konzept ist Weitermachen. Mir geht es stets um Transformation – je größer ein Ende, desto größer der neue Anfang.
 
15. Was wäre Ihr Plan B fürs Leben gewesen?
Für mich gab es nur Plan A: ein Leben im Theater. Dafür habe ich immer schon gebrannt. Mit zehn Jahren habe ich mit Freunden ein Marionettentheater aufgemacht, wir spielten auf Straßen und Plätzen und in Schulen. Unser Equipment war ein Bretterboden, ein Vorhang und darauf eine lächelnde Sonne.
 
16. Bitte ergänzen Sie: Ohne den Förderverein …
… hätte ich nicht der sein können, der ich geworden bin, und sicher nicht mein 30-jähriges Bühnenjubiläum gefeiert. Seit 2010 ist das „kleine Theater KAMMERSPIELE Landshut“ in seiner Geschäftsform eine gemeinnützige GmbH. Der Trägerverein ist jedoch für mich das Nest, wo ich mit vertrauten Menschen die gleiche Passion teile, nämlich Theater zu lieben und im Schwarm der Möglichkeiten Zukunft zu entwickeln. Vorhang auf, das Spiel beginnt. Das ehrenamtliche Engagement ist für das „kleine Theater“ sehr wichtig, und das seit 30 Jahren. Das ist schon etwas ganz Besonderes.
 
17. Wie viele Menschen passen ins Inspizientenkammerl?
Drei Personen: Ton, Licht, Video.
 
18. Wann wurde Ihr Improvisationstalent als Theaterleiter einmal besonders gefordert?
Während des Umzugs von der Neustadt 455 in die Bauhofstraße 1: Kurz vor Eröffnung der neuen Kammerspiele Landshut mit „Hautnah“ von Patrick Marber am 26. September 1998 stellten wir fest, dass man dort keine Garderobe eingeplant hatte. Aber die Situation wurde gemeistert. Dank des schnellen Reagierens und der Tatkraft der Stadt Landshut, unseres wichtigsten Förderers und Partners. Man ließ kurzerhand die Schreiner anrücken, und das zwei Tage vor der Eröffnungspremiere.
 
19. Wie bindet man die Schauspieler ans Haus?
Mit Liebe und Verständnis, mit Aufgaben, an denen sie wachsen können, und einer gemeinsamen Welt von Ideen, die man teilen kann.
 
20. Welche Figur der Theaterliteratur gibt Ihnen Hoffnung?
Der Prospero aus Shakespeares „Sturm“ mit seinem Versprechen, dass eines Tages alles wieder gut wird. Anders gesagt: Der Glaube an die Überwindung eines Konfliktes zum Positiven. Trotz aller Tragödien.
 
21. Falls das Theater noch mal umziehen sollte: Welcher Gegenstand muss auf jeden Fall mit?
Das ganze Haus, wenn das ginge! Aber wenigstens unser Logo, das kleine rote „k“ vor der Tür, dazu das „k-Manifest“ und die aus meiner Jugend stammende Bacchusmaske samt Kerze im Foyer, die den Geist und das Feuer des Hauses seit 30 Jahren immer wieder neu entfacht.
 
22. Könnten Sie heute noch mal ein Theater gründen?
Genau das versuche ich mit jeder neuen Inszenierung im Kleinen Theater Landshut.
 
23. Wie setzt sich die Finanzierung des Theaters zusammen?
Geldgeber sind die Stadt Landshut, das Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst, unsere Theatereinnahmen, der bayerische Kulturfonds, die Sponsoren und natürlich die Stuhlpaten. Daraus generiert sich die wirtschaftliche Grundlage der gemeinnützigen GmbH Kleines Theater Landshut.
 
24. Was ist Ihr bestes Argument auf der Suche nach Sponsoren?
Kein Geld ist besser angelegt als in die Kultur, denn sie ist das Floß, das uns alle trägt, vor allem in besonders stürmischen Zeiten!
 
25. Mit welchem Argument holen Sie Netflix-Menschen vom Sofa ins Theater?
Auf ins echte Leben! Lasst euch überraschen! Fühlen, atmen, staunen!
 
26. Ein Tipp, den der Sven Grunert von heute seinem jüngeren Ich von vor 30 Jahren geben würde?
Du musst das Unmögliche denken und das Unmögliche wagen. Denn macht man nur das Mögliche, würde bald gar nichts mehr geschehen – und wenn ich nur noch das täte, was ich tun kann, würde ich bald gar nichts mehr tun. Sättigung ist Stillstand. Hungrig bleiben im Staunen.
 
27. Welches Stück hätten Sie lieber nicht inszeniert?
Ich habe immer nur das inszeniert, was ich wirklich wollte – und zu diesem Zeitpunkt für wirklich wichtig hielt.
 
28. Theater als Stream – Fluch oder Segen?
Ich verstehe unseren digitalen Auftritt, direkt und live von der k-Bühne, als Einladung in die analoge Welt des Theaters. In diesem Sinn ist der Stream ein Fenster zur Welt.
 
29. Gerade in Krisenzeiten muss man träumen: Wohin soll sich das Theater entwickeln?
Das Theater muss immer werden, was es seinem Wesen nach ist: Theater, theatre, théâtre, teatro … – am besten in allen Sprachen der Welt, denn Weltoffenheit ist die größte Feindin aller Diktaturen.
 
30. Sie sind Gründungsintendant und nach 30 Jahren immer noch im Amt. 2021 sind Sie 60 geworden. Welche wichtigste Eigenschaft muss irgendwann Ihr Nachfolger haben?
Mut – und die Kraft, das Haus auf Kurs zu halten. Das Kleine Theater ist kein Name, sondern ein Konzept: „Solange der Vorhang aufgeht, verspricht die Welt, die sich dahinter befindet, eine andere zu werden.“
Intendant Sven Grunert über „Marilyn Monroes letztes Band“ am Kleinen Theater Landshut

Marilyn Monroe ist 36 Jahre alt und auf dem Höhepunkt einer steilen Karriere, als sie 1962 an einer Überdosis Barbiturate stirbt. Sie wollte nicht das platinblonde Sexsymbol sein, sondern eine ernstzunehmende Schauspielerin. Die Diskrepanz zwischen öffentlicher Wahrnehmung und privater Person zeigt Intendant Sven Grunert in seiner Inszenierung von Bernd Steets‘ „Marilyn Monroes letztes Band“ am Kleinen Theater. Darin nähert sich eine Schauspielerin der Monroe über deren letzten Abend an, als sie ihre Biographie auf Band spricht.

Was hat Sie am Thema Marilyn Monroe gereizt?

Sven Grunert: Ich wollte nicht eine intime Biographie der Marilyn Monroe inszenieren, wo man in die Rührseligkeit eines solchen Abends gerissen werden könnte durch die Tragik der Geschichte. Es geht um eine Erforschung dessen, was Monroe in unseren Köpfen ist. Wichtig ist für mich, dass sich da eine junge Schauspielerin den Charakter Monroes auf einer inneren Forschungsreise erarbeitet – und dadurch immer eine gewisse Distanz zu der tatsächlichen Rolle der Monroe möglich ist. Somit schimmert immer eine Spielform durch und nicht das Einzelschicksal, mit dem wir mitfühlend und mitleidend den Abend erleben. Das hätte mich nicht interessiert.

Sie hat weniger das Ikonenhafte gereizt, sondern die Diskrepanz zwischen der echten Person und der Kunstfigur?

Ja, diese Spaltung nach dem Motto „Wer bin und wenn ja wie viele?“. Marilyn Monroe ist in einer extremen Form wahrgenommen worden, in dem, was sie im öffentlichen Raum dargestellt hat. Aber das hatte wenig mit ihr als Person zu tun. Das kennt jeder Mensch bis zu einem gewissen Grad: Die Rolle des Intendanten oder des Oberbürgermeisters oder eben einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens – wie viel Kraft das kostet und wie groß der Zwiespalt ist zur tatsächlichen zwischenmenschlichen Tiefe, die jedem Menschen zugrunde liegt. Das anhand einer Klischeevorstellung auszuloten und Parameter zu finden, wo man sich in seinem eigenen Menschsein wiederfindet, das war der Versuch.

Haben Sie deshalb die Rolle entgegen dieser Klischeevorstellung besetzt? Wir sehen ja kein platinblondes sinnliches Sexsymbol.

Natürlich. Eine junge Frau begibt sich auf die Reise zu diesem Charakter und auch zu seiner Wirkungsgeschichte. Monroe gilt als Ikone der Frauenbewegung, weil sie es in ihrer sehr patriarchal strukturierten Zeit geschafft hat, in ihrer ganz eigenen Form von Weiblichkeit gegen die vordergründige Betrachtung zu rebellieren. Diese Kunstfigur Marilyn Monroe entblößt auch den männlichen Blick auf Weiblichkeit in seiner ganzen Einfachheit.

Marilyn Monroe wollte nicht nur als naive Blonde gesehen werden.

Ja, dahinter steckte eine ambitionierte, sehr intelligente Künstlerin, die auch an einem aufgeklärten Frauenbild arbeiten wollte. Wenn man sich vorstellt, dass sie sich mit 20 hat scheiden lassen und nach Los Angeles ging, um Schauspielerin zu werden, und durch welche Widerstände sie gegangen ist – dieses Widerständige fand ich spannend. Deswegen zeige ich die junge Frau, die sich in der Zeit der #metoo-Debatte der Klischeevorstellung der Monroe stellt und uns vor Augen führt, dass das eine Frau war, die wir in ihrer Zerrissenheit schon lieben sollten, aber die schon viel Rebellisches und Anarchisches in ihrer Arbeit und ihrem Leben getan hat. Da ist sie unterschätzt in ihrer Wirkungsgeschichte.

Also geht es um ein Vermächtnis Monroes über den Film hinaus?

In der Welt von Weinstein und Wedel – und auch die Welt des Theaters ist noch immer extrem höfisch und patriarchalisch strukturiert – war es mir auch ein Anliegen, Themen wie die #metoo-Debatte zu vergrößern. In der Wut, die in Monroes Person liegt, in der Verzweiflung und Suche nach Identität liegt ein Potential, das ich in eine Spielbehauptung zu legen versuche. Es ist wie ein Laborversuch angesetzt.

Wie ist es mit den Musiktiteln? Warum hören wir keine ganzen Monroe-Stücke so wie die sie gesungen hat?

Das Stück ist eigentlich sehr konzertant geschrieben. Wie ein Liederabend, der biografisch aufgedröselt ist. Bei mir ist es aber ein innerer Auftritt. Die Schauspielerin tritt nicht ans Mikrofon und singt als Monroe fürs Publikum. Sie trägt die Stimmung, die sie in dem Moment hat, und beschreibt den letzten Abend, den Versuch, ihre Biografie auf Band zu sprechen. Es war wichtig, gleich am Anfang zu zeigen: Marilyn Monroe war tablettenabhängig und hatte pathologische Züge. Es ist der Versuch, die Schauspielerin daneben aus dieser inneren Haltung heraus zu zeigen – im Erinnern von Auftritten, die sie vor Publikum hatte. Man sieht auf der Bühne nicht Marilyn Monroe, sondern zwei Menschen: die Schauspielerin und Monroe, der sich die Schauspielerin annähert. Deswegen ist der Gesang sehr zurückgenommen.

Diese Online-Premiere ist angekündigt als „Performance, die über die Echtzeit-Theaterübertragung hinausgeht“. Was heißt das?

Wir haben eine eigene Kamerakonzeption erstellt für diese Online-Premiere. Der Kameramann wird der Schauspielerin ganz nah sein. Man muss sich schon darauf einlassen, auf diesen Blick, den wir entwickelt haben. Es geht um die Persönlichkeit dieser Marilyn Monroe, nicht darum, die Sehnsucht nach einem netten Lied zu stillen. Das Gedankenexperiment basiert auf dem ersten Bild, wenn die Schauspielerin sich zurechtmacht und im Spiegel plötzlich Marilyn Monroe erkennt. Man weiß nicht genau, ist das schon die Monroe? Diese Suche nach Identität, die existentielle Frage, die jeden Menschen bis zu einem gewissen Grad begleitet, war unser Ansatz.

Katrin Filler
, Landshuter Zeitung, 15. Mai 2021
Am Kleinen Theater Landshut hat heute die Bühnenfassung von Marlen Haushofers „Die Wand“ als Solostück Premiere. In der Inszenierung von Sven Grunert ist Julia Koschitz zu sehen.

Eine Frau wacht eines Morgens in einer Jagdhütte auf und findet sich eingeschlossen von einer unsichtbaren Wand, hinter der kein Leben mehr existiert. Was ihr bleibt, sind ein Hund, eine Katze, eine Kuh, eine Waldschlucht, die Berge, eine Alm. Marlen Haushofers Roman hält viele Deutungsmöglichkeiten bereit. Die Wand als Symbol für Barrieren, die uns von den Mitmenschen trennen; Krankheit, Depression, Ausgrenzung, Einsamkeit. Die Bedrohung und zugleich die Sehnsucht, gezwungen zu werden, ohne andere Menschen zu leben. Der Roman „Die Wand“ erschien 1963, als weltweit Angst vor dem Ausbruch eines Atomkriegs herrschte. Vor dem Hintergrund einer weltweiten Pandemie inszenierte jetzt Sven Grunert diesen großen Roman am Kleinen Theater Landshut. Als ein Zeitstück der Gegenwart, „als Reise zum eigenen Ich“ möchte er Haushofers Text verstanden wissen. Unter Sven Grunerts Regie spielt Julia Koschitz die namenlose Romanheldin. Premiere (ausverkauft) ist heute um 20 Uhr im Kleinen Theater.

Frau Koschitz, wann haben Sie Haushofers Roman zum ersten Mal gelesen? Und wie hat er auf Sie gewirkt?

Julia Koschitz: Ich bekam ihn vor 15 Jahren als Geschenk in der Reha-Klinik, wo ich nach einem Skiunfall unglücklich vor mich hin sinnierte. Ich stand kurz vor einem Dreh, den ich unbedingt machen wollte und der zu kippen drohte, wenn ich nicht schnell genug auf die Beine komme. Meine Arbeit war mir wichtiger als meine Gesundheit. Bei der Lektüre von der „Wand“ haben sich viele Fragen aufgedrängt, die wir uns auch während der Proben gestellt haben. Wer bin ich und warum? Wie definiere ich mich als Mensch? Abgesehen davon, hat mich das Buch umgeworfen.

Was macht diesen Roman zu einem Stück Gegenwartstheater, zum Zeitstück, in dem wir Antworten auf aktuelle Fragen finden können?

Sven Grunert: Er beschreibt eine existenzielle Situation, in der ein Mensch komplett auf sich selbst zurückgeworfen ist. Durch die Pandemie ist der Text hautnah in der Gegenwart verortet. Er konfrontiert uns mit Isolation, Bedrohung, Angst. „Die Wand“ ist vielleicht sogar das Zeitstück der Gegenwart!

Wie verändert die Einsamkeit einen Menschen?

Grunert: Die totale Isolation bewirkt, dass man entweder daran scheitert oder aber Wege findet, sich einer extremen Situation zu stellen. Letztlich leben wir alle getrennt voneinander, die Welt stellt sich vielen von uns wie eine unüberwindbare Wand dar. Mit dieser Situation konfrontiert uns Marlen Haushofer. Also mit einer Situation, die ganz tief im Kern unseres Menschseins begründet liegt. Der Romanheldin gelingt es, durch schonungslose Ehrlichkeit das Leben auf eine neue Art und Weise zu verstehen. Sie schafft es, als liebender Mensch weiterleben zu wollen. In unserer Interpretation findet sie im Verlauf der Inszenierung zu einem Urvertrauen. Bei uns endet das Stück tatsächlich romantisch, aber im Sinne der Aufklärung.
Koschitz: Ich habe den Text als Beschreibung eines Seelenzustands verstanden. Die Romanheldin befindet sich in einer Situation, in der sie droht, verrückt zu werden. Sie beschließt, zu schreiben, um nicht den Verstand zu verlieren, aus einem Überlebenstrieb. In ihrer Einsamkeit gelingt es ihr, sich zu öffnen. Offen zu werden für die Begegnung mit der Welt und sich selbst.

Wie kann man diese Gefühlswelt auf der Theaterbühne anschaulich machen?

Grunert: Als schonungslose Introspektion! Wir haben keine illustrierenden Bilder gesucht, sondern versuchen, auf der Bühne eine Extremsituation zu definieren. Die Protagonistin befindet sich gleichsam in einer Zelle, in sich selbst, gefangen in ihrem Kopf, zwischen Imagination und Realität. Wir versuchen, die Geschichte so zu erzählen, dass der Zuschauer in den Kopf einer Schauspielerin hineinschauen kann: wie sie denkt, fühlt, reflektiert und sich selbst erkennt.

In der Vorankündigung wird das Stück als radikaler Appell bezeichnet. Warum Appell? Warum radikal?

Grunert: Die ganze Geschichte ist ein Bericht, und wir versuchen, ihn in aller Ehrlichkeit und Offenheit weiterzugeben. Die Protagonistin ist hin- und hergeworfen zwischen Wissen und Gewissen. Sie hat einen Menschen getötet, sie ist traumatisiert. Aber sie ist schonungslos ehrlich mit sich selbst. Sie will wissen, verstehen, erkennen. Ihr Wissensdrang ist größer als ihr Leidensdruck. Das ist ein wirklich radikaler Appell, wenn man ihn immer wieder an sich selbst richtet.
Julia Koschitz: In dem Bericht, wie wir ihn interpretieren, sucht die Protagonistin nach der Wahrheit, um weiter an das Leben glauben zu können. … Sie überwindet Angst und Isolation mit aller Kraft und Hingabe, ohne sich aufzugeben und ohne jemals aufzuhören, das Leben zu lieben. Nur dieser Weg führt durch die Wand!

Hannelore Meier-Steuhl, Landshuter Zeitung, 17. September 2021
LZ-Reihe: Sven Grunert über Theater in der Pandemie, Freiheit in Demut und Helene Fischer
„Reden wir über Corona…“:

In Teil zwei unserer Gesprächsreihe kommt Sven Grunert zu Wort. Wie erlebt der Intendant des Kleinen Theaters Landshut die Pandemie – als Kulturschaffender, aber auch ganz persönlich? Grunert, 58, äußert sich gewohnt meinungsstark zu ganz unterschiedlichen Facetten der derzeitigen Sondersituation. Er spricht über das Leben im Lockdown für Kreative, über seine Sehnsucht nach Publikum und Applaus, analysiert das Handeln der politisch Verantwortlichen und entwirft sein Bild von einer Zeit nach Corona.


Landshuter Zeitung: Herr Grunert, wie darf man sich das Theaterleben in Zeiten von Corona vorstellen? Wird Ihre Kreativität durch die belastenden Gesamtumstände stark beeinträchtigt?

Sven Grunert: Nein, denn dafür fehlt mir die Zeit. Künstler haben die Fähigkeit, sich mit Extremsituationen gut auszukennen. Das ist ein bisschen so, wie wenn man einen Segler fragt: Oh Gott, morgen soll starker Wind sein, sogar mit Sturmwarnung. Hast du Lust zu segeln? Da werden passionierte Segler antworten: Ja, da muss ich durch! Will sagen: Bei einer Künstlerpersönlichkeit löst oft alles, was sie mit dem Unmöglichen in Kontakt bringt, neue Fantasien aus. Da wird man in seinem Vorstellungsvermögen eher noch angeregt. Und konkret: Wenn wir intensiv proben, befinden wir uns im Schutzraum der künstlerischen Arbeit, da fallen all die praktischen Probleme unserer Lebenswirklichkeit weg, man ist dann nur im Augenblick.

Auch Ihre Bühne muss in der Pandemie ohne (Präsenz-)Publikum auskommen. Klar, dass dem Theater die Menschen fehlen. Was fehlt den Menschen ohne Theater?

Der Mensch lebt nicht allein, er ist ein soziales Wesen, die kleinste Einheit ist zwei. Theater ist ein Ort, wo man in einer ganz hohen Form sich in seinem Menschsein mit anderen wahrnimmt und im Zusammenhang eines Publikums begreift. Im Applaus erschließt sich das Erleben jedes Einzelnen, etwas gemeinsam mit anderen Zuschauern positiv zu konnotieren. Erlebnisse wie diese sind für unsere soziale Identität enorm wichtig. Das kann in dieser Form zurzeit nicht stattfinden, es gibt dieses Gemeinschaftserlebnis nicht. Theater allein oder mit ganz wenigen vertrauten Menschen auszuhalten, fällt mir, zugegebenermaßen, schwer.

Gleichwohl versucht das Kleine Theater wie viele andere Spielstätten, aus der Not das relativ Beste zu machen. Als „k.digital“ kommen Sie mit Live-Streams zu den Leuten nach Hause. Schön und gut und durchaus verständlich – aber sollte man ein derart singuläres Ereignis wie einen Theaterbesuch wirklich mit den Mitteln des Virtuellen zu transformieren versuchen? Geht dabei nicht viel zu viel verloren: Intensität, Energie, Interaktion?

Wir sind ja auf der Online-Bühne nicht präsent, um unsere Produktionen auf Youtube zu parken. Wir versuchen im Gegenteil, den Ereignischarakter soweit wie möglich zu unterstreichen. Bei uns muss man für den Stream eine Karte haben und sich zu einem definierten Zeitpunkt einfinden, an dem man dann gemeinsam nach dem Konzept einer normalen, analogen Theatervorstellung am Geschehen teilnimmt.

Wenn schon Ersatz, dann der bestmögliche?

Es ist immer eine Substitution, ein Ersatz für Nähe. Natürlich ist mir die unmittelbare Präsenz von Menschen lieber. Aber allein das Bewusstsein, dass wir uns auf einer gemeinsamen zeitlichen Achse befinden, ist schon etwas, was mir ein Gefühl von Intimität und Nähe vermittelt. Ein Kind zum Beispiel kann physische Nähe für eine Weile mit einem Kuscheltier oder einer Schmusedecke substituieren.

Also sind Sie kein Freund einer Mediathek?

Das ist ein heißes Eisen: Zeitsouveränität. Wenn ich das schon höre! Natürlich haben wir eine Mediathek mit Videos und verschiedenen Audio-Formaten, etwa Interviews, Podcasts und Werkstattgesprächen, die man jederzeit abrufen kann. Trotzdem finde ich gewisse zeitliche Vereinbarungen wie bei unserem Streaming-Programm sinnvoll, weil sie mich in meiner Konkretheit, mich in etwas zu begeben, viel näher an das Ereignis binden. Das hat eine andere Qualität.

Die Treue des Publikums ist das eine, die fehlende Wertschätzung seitens der Politik allerdings das andere. Systemrelevanz in der Krise wurde den Kulturschaffenden von den Entscheidungsträgern hartnäckig abgesprochen…

Schon als ich mit 17 Jahren die Kulturinitiative in Böblingen gegründet habe, war es das Thema, dass sich die Kultur auf politischer Ebene immer in der Notwendigkeit beweisen musste. In der momentanen Situation ist es so, dass die politisch Verantwortlichen restriktiv handeln, mit Einschränkungen, mit Bestimmungen. Wenn man so auf diese restriktiven Prozesse konzentriert ist, dann gibt es außer diesen Reglementierungen nichts anderes. Umso mehr brauchen wir neue Ideen und Konzepte. Das ist die Aufgabe der Kunst.

Ist da relatives Verständnis für Söder und Co. herauszuhören – oder war das jetzt einfach eine Beschreibung der Realität?

Na ja. Worum es hier geht, hat mit Sensibilität zu tun, mit Einfühlung, mit Empathie. Damit sind Politikerinnen und Politiker in ihrem derzeitigen Handeln nicht unbedingt ausgestattet. Es gibt aktuell Prozesse, die sind sehr autoritär, und das Problem ist: Was für ein Menschenbild liegt hier zugrunde? Die Frage ist, inwieweit man als Verantwortlicher das Maß verliert und vergisst, dass hinter jeder Entscheidung komplexe Lebensvorgänge anderer Menschen sind, von deren Lebenswelten die Entscheidungsträger oftmals nicht viel wissen. Das ist es.

Reden wir über Freiheit: Wie sehr machen einem anerkannten Freigeist wie Ihnen Restriktionen wie die Ausgangssperre um 21 Uhr oder ein Bewegungsradius von 15 Kilometern zu schaffen, von deren Sinnhaftigkeit ganz zu schweigen? Vermissen Sie eine breite gesellschaftliche Diskussion über den Entzug von Grundrechten?

Persönlich bin ich da vielleicht ein schlechtes Beispiel, ich habe immer schon sehr zurückgezogen gelebt. Und allgemein: Freiheit ist ein ganz großer Begriff, der für viele Überlegungen und viele Interessen gebraucht und auch missbraucht wird. Für mich geht es derzeit vor allem um Demut, was das eigene Denken und den eigenen Anspruch betrifft. Man muss sich sehr zurücknehmen, um einen Sinn darin zu sehen.

Einen Sinn zu sehen … in der Pandemie?

Man kann seine Freiheit in gewissen Momenten einschränken, zum Beispiel durch das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung und Abstand halten, ohne darin die Unfreiheit zu sehen, sondern vielmehr die Befreiung von Umständen, die sehr komplex sind. Rechnerisch könnte es mir zu 0,5 Prozent passieren, dass ich in der jetzigen Situation sterbe. Man könnte sagen: Das Risiko trage ich. Aber in der Auswirkung erreicht man durch sein Verhalten eine Anhäufung von Lebensdramen, wenn man an die Seniorenheime denkt und die Krankenhäuser. Wieviel Selbstverantwortung muss ich haben, damit so etwas nicht stattfindet? Im Moment denke ich sehr oft an Immanuel Kant und seine drei W´s: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Darin suche ich meine Freiheit im Tun. Meine Freiheit hört für mich da auf, wo ich anderen Menschen schaden kann.

Aber rechtfertigt diese Position die aktuellen Grundrechtseingriffe?

Wenn dieses Bewusstsein sich durchsetzen würde, dann bräuchten wir keine harten Maßnahmen, aber leider trifft diese Erkenntnis nicht für alle zu. Man erlebt ja auch Leugner der grundsätzlichen Situation. Wenn dieses Irrationale, dieser Wahnsinn einen größeren Teil der Bevölkerung erfasst, ist das nicht ungefährlich, davor muss man sich in Acht nehmen. Daher bin ich bereit, gewisse harte, quasi erzieherische Maßnahmen, die komplett meiner Natur widersprechen, mitzutragen. Lieber harte Bandagen, als der Sprung in den Wahnsinn.

Matthias Lilienthal, der Ex-Intendant der Münchner Kammerspiele, hat früh in der Pandemie gesagt, unser altes Leben existiere nicht mehr. Wie aber wird unser zukünftiges Leben aussehen, wenn Corona – jedenfalls größtenteils – überwunden ist? Haben Sie vor Ihrem geistigen Auge Bilder ausverkaufter Konzerthallen und voller Biergärten? Von Menschen, die sich spontan umarmen oder wenigstens die Hand schütteln?

Wir leben in einem Prozess, der uns einen Wandel vor Augen und sicherlich nicht dazu führt, dass man wieder in der Vergangenheit anfängt. Wir müssen eine Lebenskultur schaffen, die es uns ermöglicht, mit solchen und zukünftigen Extrem-Situationen umzugehen, ohne unsere Wertegrundlagen im gesellschaftlichen Miteinander zu verlieren. Die Art und Weise, wie wir gelernt haben, uns in Gewohnheiten anzusiedeln, Nähe zu teilen, eine gewisse Form von Massenkultur zu erleben – da wird es sicher Veränderungen geben. Wie denken wir Zukunft? Wie denken wir Nahkultur in einer modernen Stadt wie Landshut? Beim Generieren möglicher Ideen ist die Kunst ganz besonders gefragt. Das erinnert mich an unser Jahresmotto: Theater ist die Kunst, sich immer wieder neu zu erfinden.

Vorteil Kleines Theater.

Mein Konzept von Theater war nie Mainstream, immer Intimität. Das ist eine kulturelle Form, die Bestand haben wird. Ich kann hier Theater machen vor 60, 50, 30 Leuten. Wenn ich mir dagegen Mario Barth oder Helene Fischer in einer großen Arena vorstelle, da dürfte es eng werden. Es wird darauf hinauslaufen, dass es kleinere Zusammenkünfte gibt für kulturelle und sportliche Ereignisse. Und wenn Großveranstaltungen wegfallen oder Massentourismus nachlässt, muss das nicht unbedingt ein Verlust sein. Wer braucht Ballermann auf Mallorca oder Kreuzfahrtschiffe in Venedig? Dieser Verlust wäre für mich ein großer Gewinn.

Gespräch: Michael Stolzenberg, Landshuter Zeitung, 23. Januar 2021

Live-Streams: Stefan Lehnen spielt heute im Kleinen Theater Landshut ohne Publikum – wie baut man ohne Zuschauerresonanz die nötige Bühnenspannung auf?

Das Kleine Theater – Kammerspiele Landshut spielt auch in Coronazeiten live, aber ohne Publikum. Hier erzählt der Schauspieler Stefan Lehnen, wie es ist, nur ins Auge der Kamera zu spielen und keine Reaktionen aus dem Zuschauerraum zu erhalten. An diesem Donnerstag (11. März) ist Lehnen in der Komödie „Alles was Sie wollen“ des französischen Autoren-Duos Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière zu sehen. Am Samstag stellt er in der Reihe „Alles was ich liebe“ eine persönliche Auswahl von Texten vor.

Herr Lehnen, haben Sie schon mal ohne Publikum gespielt?
Stefan Lehnen: Glücklicherweise noch nicht. Ich habe in der Off-Szene in Köln mal vor sehr, sehr wenigen Zuschauern spielen müssen. Aber das ist natürlich nicht vergleichbar mit einer Situation, in der von vornherein kein Publikum anwesend ist.

Normalerweise müssen Sie sich im Theater auf das Spiel konzentrieren, Sie werden von Scheinwerfern geblendet – was bekommen Sie eigentlich als Schauspieler vom Publikum mit?
Lehnen: Das ist an den Kammerspielen in Landshut eine andere Situation als in größeren Bühnenräumen, weil das Publikum sehr dicht an der Bühne sitzt. Obwohl wir tatsächlich oft Scheinwerfer im Gesicht haben, spürt man das Publikum doch sehr deutlich. Und man sieht es natürlich zwischendurch. Man kriegt die Atmosphäre auf irgendeine Art und Weise doch sehr deutlich mit. Ich habe mir das selber nie erklären können, welche Art von emotionalen Antennen da noch zusätzlich zu der Konzentration auf den Spielpartner und den Text funktionieren. Man bekommt ganz sensibel mit, ob das Publikum stumm ist, weil es sich langweilt, weil es gebannt ist oder weil es bewegt ist. Vor Jahren war ich Ensemblemitglied am Residenztheater, da funktioniert dieses Gefühl ganz anders, weil der Abstand zum Publikum deutlich größer ist.

Das fehlende Publikum muss gerade in einer Komödie wie „Alles was sie wollen“, mit der Sie nun im Live-Stream zu sehen sind, auffallen. Sie spielen ja nur ins Kameraauge – wissen aber: Jetzt schauen gerade Menschen am Bildschirm zu. Wie kriegen Sie da die nötige Spannung?
Lehnen: Das ist eine große Herausforderung, gerade in der Form der Komödie, wo sehr schnelle Textpartituren, sehr schnelle Klipp-klapps, ein tennismäßiges Hin- und Herspielen vorkommen. Es ist am Anfang irritierend, wenn man nur das Kameraauge vor sich hat. Im Raum sind noch die Kameraleute, das hilft schon viel. Aber man ist natürlich bei einer Komödie deutlich abhängiger von der Reaktion des Publikums, sei es ein Lachen oder eine kurze Pause, um eine Pointe sich setzen zu lassen.

Das Publikum gibt damit ja gewissermaßen auch den Takt der Aufführung an.
Lehnen: Die Reaktion beschwingt uns auf der Bühne dann ja wiederum enorm. Wenn wir nach den ersten fünf Minuten merken, der Zug ist auf dem Gleis, es ist eine gmahde Wiesn, macht es wahnsinnig Spaß zu interagieren, weil man merkt: Wir wollen alle dasselbe. Wenn da nur eine Kamera ist, muss man aus der Erfahrung mit den Vorstellungen vor Publikum eine ganz feine Gratwanderung machen: Machen wir jetzt eine Wirkungspause, weil da immer ein Lacher war? Oder gehen wir über die Stelle drüber wie bei einer Probe, weil ja eh keine Reaktion kommen kann? Es hilft auch, sich vorzustellen, dass da Menschen vor dem Bildschirm zuschauen. Die Aufgabe des Schauspielers, Spannung auf die Bühne zu bringen, müssen wir ja bei der Probe auch jedes Mal wieder erledigen. Das gehört einfach zum Brot des Schauspielers, das manchmal schwerer zu kauen ist, als wenn viel Butter und Wurst drauf ist.

Am Samstag lesen Sie dann in der Reihe „Alles was ich liebe“ Texte, die Ihnen gefallen. Wohin geht die Reise da?
Lehnen: Die Leute haben unter den obwaltenden Umständen ohnehin so viel mit dramatischen, negativen und tiefen Inhalten zu tun, also habe ich mich für die vermeintlich leichtere Seite der amüsierten Unterhaltung entschieden. Ich werde versuchen, den Leuten ein bisschen Spaß zu bereiten. Ich suche Texte in der Literatur, die sich mit Alkohol oder Betrunkenheit oder Sucht auseinandersetzen. Ob das Tschechow ist oder Frank Goosen – ich komme ja aus dem Ruhrgebiet, mein Vater hatte 25 Jahre lang eine Kneipe. Schlussendlich wird es, so profan es klingt, eine Lesung über Alkohol werden. Es soll aber keine Anleitung zum Betrunkenwerden sein, sondern die Leute sollen sich für ein Stündchen augenzwinkernd amüsieren können – und danach wieder überlegen: Wie hoch sind die Inzidenzwerte, und wann darf ich mich mit wie vielen Leuten nicht treffen?

Philipp Seidel, Landshuter Zeitung, 11. März 2021

Im gegenwärtigen Lockdown versuchen viele Theater über digitale Angebote mit ihrem Publikum in Kontakt zu bleiben. Für die Theater der freien Szene ist das deutlich schwieriger als für die großen Häuser, denn oft fehlt es an der nötigen technischen Ausrüstung. Das kleine theater Landshut hat nun dennoch ein neues digitales Angebot gestemmt. Christoph Leibold berichtet.

Christoph Leibold: In der Regel zeigen die Bühnen Theater aus der Konserve, also Aufzeichnungen alter Aufführungen. Oder, was zunehmend passiert, sie experimentieren mit originären Webformaten, bei denen die Schauspieler zum Beispiel daheim vor den Kameras ihrer Laptops agieren. Das kleine theater Landshut will einen vergleichsweise selten beschrittenen Weg einschlagen. Dort soll, wie gewohnt, auf der Bühne gespielt und in Echtzeit ins Netz übertragen werden.

Intendant Sven Grunert: Ich denke einfach, dass die Gewissheit des Zuschauers, dass man einen gemeinsamen Augenblick, der zwar nicht in einem gemeinsamen Raum erlebt wird, aber durch die Gewissheit, dass es eine zeitliche Anbindung gibt von dem, was ich sehe , das ein gewisses Erlebnis haben kann, was mich in die Intensität eines Theaterlebens versetzt.

Christoph Leibold: Um das zu ermöglichen hat das kleine theater Landshut in Kameraequipment investiert. Wie bei einer Fernsehübertragung kann nun zwischen verschiedenen Perspektiven live hin- und hergeschnitten werden. Für die Aufführungen muss man sogar Eintrittskarten kaufen, wobei die Preise niedrig sind. Sven Grunert geht es nicht darum, Einnahmen zu generieren, sondern das Publikum zu bewußtem Zuschauen einzuladen.

Sven Grunert:
Ich glaube, es ist auch ganz wichtig, dass man das alte Ritual, das man kennt, wenn man ins Theater geht, erlebt. Man erwirbt eine Karte und geht dadurch noch eine ganz andere Entscheidung ein.

Christoph Leibold: Im Streaming sieht Sven Grunert auch die Chance, ein breiteres Publikum für das kleine theater Landshut zu gewinnen. Gut möglich, dass er das Angebot als eigene Sparte auch dann noch weiter behält, wenn Corona besiegt ist und Theater wieder aufsperren dürfen.

 

„Wir erschaffen eine leere Bühne im Kopf“

Das Kleine Theater in Landshut sucht im Internet nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten

Seit Mitte März ist das Kleine Theater in Landshut coronabedingt geschlossen. Pause machen die Theaterschaffenden um Sven Grunert aber nicht. Sie suchen nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten im Digitalen. Herausgekommen ist das Projekt „KTL – On Air“, bei dem Schauspieler täglich Lesungen und Performances zeigen. Dramaturgin Ganna Madiar erzählt, was sich dahinter verbirgt und wie es für das Kleine Theater während und nach der Krise weitergeht.

Frau Madiar, wie ist das Projekt KTL – On Air zustande gekommen?

Ganna Madiar: Ganz am Anfang der Corona-Pandemie hat Sven Grunert definiert, dass neue Inhalte, neue Formate, neue Gedanken zu entwickeln sind, die es ermöglichen, baldigst wieder Theater spielen zu können. Zusammen mit dem Videokünstler Hagen Wiel, der das Kleine Theater seit nun 15 Jahren künstlerisch begleitet, hat Sven Grunert ein Projekt konzipiert, dem die bisherige künstlerische Arbeit des Kleinen Theaters zugrunde liegt: das Kleine Theater als Ort, wo man eine neue Verortung der Imagination sucht – nun auch im digitalen Raum.

Welches Konzept liegt dem Projekt zugrunde?

Madiar: Das Projekt beschäftigt sich mit der Frage, wie man analoge Prozesse im virtuellen Raum für die Menschen erlebbar macht. Wir erschaffen eine leere Bühne im Kopf und treffen uns dort in der gemeinsamen Imagination. KTL – On Air ist ein transmediales Kunstprojekt über die aktuellen Themen, die unsere Gesellschaft in der Zeit der Pandemie prägen: Aufgeschlossenheit und Verbundenheit, Distanz und Nähe, Aktionismus und Ruhe, Gehorsamkeit und Protest. Wichtig ist die Nachhaltigkeit: Die Themen, die innerhalb des Projekts verhandelt werden, finden sich auch in unserer weiteren künstlerischen Arbeit wieder, digital oder analog.

Wie läuft die Produktion der Videos ab?

Madiar: Die Themen, mit den das Projekt sich beschäftigt, sind in einer gemeinsamen Konzeptionskonferenz per Skype klar definiert worden. Ich mache den Schauspielern Textvorschläge, treffe die endgültige Textauswahl und koordiniere die Herstellung des Videos. Die Schauspieler filmen die Videos zu Hause. Dabei bleibt Sven Grunert mit den Ensemblemitgliedern telefonisch im Kontakt und äußert seine Regiehaltung. Der Videokünstler Hagen Wiel bearbeitet das Video und ist jeden Tag für die Echtzeit-Übertragung zuständig.

Was sind dabei die Vorgaben an die Schauspieler?

Madiar: Außer den technischen Vorgaben ist die Interpretation des Textes relativ frei. Sven Grunert mit seinen Regieanweisungen begleitet die Schauspieler in ihrer Suche nach der Figur und Haltung. In gemeinsamen Brainstorming-Sessions entwickeln das Team und die Schauspieler eine gemeinsame Gestaltung der jeweiligen Videos.

Was ist das Ziel des Projekts?

Madiar: Unser Ziel ist, zu untersuchen, wie die zwei Medien, Theater und Internet, einander beeinflussen. KTL – On Air ist keine Notlösung in den Zeiten des Social Distancing und auf keinen Fall abgefilmtes Theater, sondern eine Suche nach neuer Sprache, neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Diese erlauben uns, analoge Theaterprozesse im neuen digitalen Raum zu erspielen und dadurch ein neues Publikum zu generieren.

Wie viele Zuschauer haben Sie bisher erreicht?

Madiar: In der ersten Woche des Projektes hatte allein unsere Facebook-Seite 20 000 Besucher.

Wie geht es nach dem Ende des Projektes beim Kleinen Theater weiter? Gibt es schon Ideen für neue Projekte dieser Art?

Madiar: KTL – On Air besteht aus 16 Shortcut-Premieren. Das letzte Video ist für 5. Mai geplant. Im neuen Kapitel des Projektes bereiten wir eine Retrospektive aus der Geschichte des Theaters vor: Dokumentationen über die Inszenierungen, Festivals etcetera. Nicht auszuschließen ist, dass wir unseren Zuschauern auch die Live-Lesungen in einem neuen, exklusiven Format anbieten. Bis Mitte Juni versuchen wir, eine Internet-Premiere mithilfe von Livestream und gegebenenfalls noch anderer digitaler Übertragungswege zu ermöglichen. Daran arbeiten wir mit Hochdruck.

Bleibt das digitale Format auch nach der Corona-Krise bestehen oder nur so lange, bis das Kleine Theater wieder vor physischem Publikum spielen kann?

Madiar: Unsere Suche nach neuen Formaten wird auch in der Zeit nach der Corona-Krise aktiv bleiben. Für die neue Spielzeit 2020/2021 arbeiten wir an zwei digitalen Formaten, die das analoge Bühnengeschehen in den digitalen Raum erweitern.

Kerstin Petri, Landshuter Zeitung, 1. Mai 2020

Als Intendant des Kleinen Theaters Landshut sieht Sven Grunert trotz Zwangspause optimistisch in die Zukunft

Die Theater sind dicht. Die meisten Bühnen haben wegen der Krisenlage ihre vorläufige Schließung bis zum 19. April verkündet. Aber dass sie am 20. April ihren Spielbetrieb wieder aufnehmen können, ist derzeit eher unwahrscheinlich. Die laufende Spielzeit muss vermutlich abgehakt werden, die Einnahmeverluste sind riesig und bedrohen vor allem kleinere Bühnen in ihrer Existenz. Darauf wies auch der Deutsche Bühnenverein hin. Neben dem Landestheater Niederbayern ist in Landshut auch das Kleine Theater vom Stillstand betroffen. Sven Grunert, seit 28 Jahren Intendant dieser Bühne, versucht dennoch optimistisch zu bleiben und macht sich Gedanken, wie seine künftige Arbeit aussehen könnte.

Keine Proben, keine Vorstellungen, kein Publikum, keine Einnahmen. Herr Grunert, haben Sie Angst um die Zukunft Ihres Theaters?

Sven Grunert: Ich hatte vergangene Woche einen Telefontermin mit dem Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst, das Gespräch verlief sehr positiv. Finanziell sind wir für die Spielzeiten 2019/20 und 2020/21 auf der sicheren Seite. Jetzt geht es für mich darum, neue Inhalte, neue Formate, neue Gedanken zu entwickeln, die es ermöglichen, bald wieder Theater spielen zu können. Derzeit gehe ich davon aus, dass das für uns ab Mitte Mai wieder realistisch ist.

Das ist sehr optimistisch, denn gerade wurden die für Mai geplanten Bayerischen Theatertage in Memmingen abgesagt. Wären Sie wieder dabei gewesen?

Grunert: Wir waren von der Jury eingeladen, teilzunehmen, und wären mit meiner Inszenierung „Bilder deiner großen Liebe“ hingefahren, einem Stück von Wolfgang Herrndorf, das von Julia Koschitz gespielt wird. Natürlich bedauern wir die Absage sehr.

Was wird aus der Inszenierung von Lutz Hübners „Furor“, die bereits im März Premiere haben sollte? Proben sind ja zurzeit nicht möglich.

Grunert: Die Produktion von „Furor“ haben wir auf Oktober verschoben. Ab Mai oder Juni werden wir dann versuchen, unserem Publikum einen reduzierten, aber ganz normalen Spielplan anzubieten. Im Moment geht es mir mehr darum, das Theater gesellschaftlich relevant weiterzuentwickeln.

Wie soll das konkret aussehen?

Grunert: Wir überlegen uns, digitale Inhalte und Optionen auf unserer Webseite zugänglich zu machen. In der Zeit von „physical distancing“, also dem Vermeiden von Körperkontakten, bleiben wir mithilfe der digitalen Contents mit unserem Publikum in Kontakt. Voraussichtlich am 21. April starten wir mit einem neuen Projekt – einer Lesung unter dem Motto „#stayathome – KTL on Air“, für die ich gerade mit Julia Koschitz in Verhandlungen bin. Die Bühnenwelt und die virtuelle Welt sollen dabei zu einer Welt werden, die wir gemeinsam gestalten. Es ist jetzt die Zeit, uns neu zu erfinden, und das Theater ist gefordert, sich auch ein Stück weit selbst in seinen Aufgaben zu entwickeln.

Unser gesellschaftliches Miteinander steht zweifellos vor neuen Aufgaben. Was kann das Theater leisten, um als Impulsgeber zu wirken?

Grunert: Wir wollen uns mit unserer ganzen Kraft der gegenwärtigen Krise stellen. Wir wollen Fragen aufwerfen und sichtbar und erlebbar machen, was Wirklichkeit ist und in welchen Wirkkräften sich unsere Gegenwart widerspiegelt. Wir wollen zeigen, was ist und was sein kann. In unserer Theaterarbeit wird es in naher Zukunft verstärkt darum gehen, neue Formate und neue Handlungen zu erfinden und diese für das soziale Leben, für den Gemeinsinn, für die Gesellschaft zu erspielen.

Die laufende – oder vielmehr unterbrochene – Spielzeit steht unter dem Motto: „Theater ist die Kunst, unser Menschsein immer wieder neu zu erfinden“. Das kommt Ihren Zukunftsplänen doch schon ziemlich nahe?

Grunert: Ja. Und man könnte dazu noch Schiller zitieren und sagen: „Der Mensch spielt nur da, wo er Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Das Theaterspiel, die Theaterkunst stellt den Menschen in den Fokus. Die Welt verändert sich, und wir verändern uns mit ihr. Theater ist dabei für mich eine transformierte Gegenwart mit der Aufgabe, die Zukunft zu generieren.

Was bedeutet das konkret für Ihre Arbeit?

Grunert: Wir werden uns mit all unseren Erfahrungen und mit ganzer Leidenschaft der Aufgabe widmen, kulturelle Impulse durch künstlerische Produkte zu ermöglichen. Für mich ist Kultur die Grundlage menschlichen Seins. Kultur ist das Floß, das uns trägt. Und Theater ist die Kunst, unser Menschsein immer wieder neu zu erfinden. Das wird der Kern unserer weiteren künstlerischen Arbeit sein.

Und wie sieht Ihr Alltag momentan aus?

Grunert: Ich bin jeden Tag in meinem Büro und arbeite daran, dass alles gut aufgestellt ist. Dazu bleibe ich in Kontakt mit meinen Schauspielern und mache Pläne für die Spielzeit 2020/21. Müssen wir uns Sorgen machen, dass das Kleine Theater Landshut der Corona-Krise zum Opfer fallen könnte? Grunert: Ein klares Nein!

Hannelore Meier-Steuhl, Landshuter Zeitung, 2. April 2020

Ein neuer Blick auf Lore Lay und ihre Leidensgenossinnen
Sarah Grunert über „Die Geschichte der Frau“ von Feridun Zaimoglu, die sie am Sonntag als szenische Lesung im Kleinen Theater Landshut zeigt

In seinem Roman „Die Geschichte der Frau“ (2019) verleiht der Kieler Autor Feridun Zaimoglu teils realen, teils fiktiven Frauen, die bisher stumm waren, eine Stimme, er will sie hörbar machen. Die Schauspielerin Sarah Grunert hat aus dem Buch eine szenische Lesung gemacht. An diesem Sonntag um 19 Uhr ist Premiere am Kleinen Theater Landshut – Intendant des Hauses ist ihr Vater, Sven Grunert.

„Die Geschichte der Frau“ hat das Anliegen, kaum erhörten, unterdrückten oder getöteten Frauen der Vergangenheit eine Stimme zu geben. Feridun Zaimoglu lässt sie dafür allerdings in einer Sprache reden, die ein Kritiker als „künstlich hochgeschraubte, muskelbepackte Imponierprosa“ bezeichnet hat. Warum tun Sie sich das an?

Ich finde es spannend, zu schauen, welchen Blickwinkel die Frauen eingenommen hätten. Zaimoglu hat sich Frauen ausgesucht, die sich in einer Umbruchphase befinden. Sie durchschauen die Strukturen, in denen sie leben, können sich aber trotzdem ihres Schicksals nicht erwehren. Sie hätten vielleicht eine andere Geschichte schreiben können, wenn die Strukturen anders gewesen wären. Und das sind ja die Strukturen, aus denen unsere heutige Gesellschaft entstanden ist – und an denen arbeiten wir uns immer noch ab.

Wie viel Lesung gibt es, wie viel Spiel?

Es ist eine szenische Lesung im Raum, das Konzept ist eine Art Zeitreise, eine Spurensuche: Finde ich Spuren der beschriebenen Frauen im Heute wieder? Kann ich mich mit ihnen identifizieren?

Welche der Frauen haben Sie am meisten ins Herz geschlossen?

Ich mag die Passage von Lore Lay sehr gerne, weil ein es komplett anderer Blickwinkel auf die Sage ist – sie verschanzt sich mit Messern vor Clemens Brentano und sagt ihm, er soll weggehen, sie will überhaupt nicht zur Legende oder als schön besungen zu werden. Die Dichterfigur ist sehr schön karikiert.

Wie viel Einfluss hatte Ihr Vater auf die Inszenierung?

Die Idee für den Stoff kam vom Theater. Ich hatte bei der Lesung auf den dortigen Sperr-Tagen schon eine etwas performativere Lösung angedeutet, daraus ist dann mein Konzept der Zeitreise mit Hilfe eines Schranks entstanden. Alles, was ich von der Bühne aus nicht sehen kann, das überlasse ich meinem Vater.

Philipp Seidel, Landshuter Zeitung, 16. November 2019

Interview von Julia Koschitz mit Philipp Seidel zu „BILDER DEINER GROßEN LIEBE“ – Inszenierung 2019

Mit Wut im Bauch und verloren in der Welt

Eine junge Frau flieht aus einer psychiatrischen Anstalt und macht sich barfuß auf den Weg durchs Land. In dem unvollendet nachgelassenen Roman „Bilder deiner großen Liebe“ erzählt Wolfgang Herrndorf die Geschichte von Isa, die in seinem Bestseller-Roman „Tschick“ schon als Nebenfigur auftritt. Robert Koall hat auch aus diesem Stoff eine Theaterfassung gemacht, die heute unter der Regie von Intendant Sven Grunert Premiere im Kleinen Theater in Landshut hat. Auf der Bühne steht Julia Koschitz, die dem Kleinen Theater schon einige Sternstunden beschert hat, unter anderem als Henrik Ibsens „Nora“, für die sie bei den Bayerischen Theatertagen 2006 den Darstellerpreis erhielt.

In der letzten Spielzeit hat Matthias Eberth am Kleinen Theater Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ inszeniert, in dem die Isa, gespielt von Ines Hollinger, auch vorkommt. Beziehen Sie sich auf diese Inszenierung?

Nein, ich habe sie nicht mal gesehen.

Sie machen also mit Sven Grunert etwas ganz Neues?

Ich gehe davon aus. Wir haben von Anfang an den Gedanken fallengelassen, dass ich glaubwürdig ein 14-jähriges Mädchen darstellen soll. Wir haben uns auf das Universelle im Text konzentriert, auf den Aspekt ihrer kindlichen Weisheit, ihrer Suche nach der Liebe zur Welt und zu sich selbst, und machen uns damit frei von jeglicher Altersbegrenzung.

In einem Gespräch mit Ihrer Kollegin Louisa Stroux haben Sie gesagt, dass Intendant Sven Grunert bei Ihrem ersten Vorsprechen am Kleinen Theater Ihre Wut testen wollte. Das passt gut zu der „Tschick“-Isa, die wir von der Bühne und aus dem Film kennen – sehr laut, sehr wütend. Ist Ihre Isa auch so?

Der Wutanteil an dieser Figur ist ganz wichtig und kommt bei uns natürlich auch vor. Aber ich finde ihre Empfindsamkeit und Verlorenheit genauso bedeutend, und ihre Anarchie und Gegenwehr zeigt sich ja auch in ganz anderen Farben. Ich nehme also an, dass es im Vergleich nicht ganz so laut bei uns zugeht. Ich finde, die Figur und ihre Reise haben so unterschiedliche Aspekte, dass es schade wäre, sie komplett in Wut zu tunken.

Isa flieht gleich am Anfang aus einer psychiatrischen Anstalt. Ihr erster Satz lautet: „Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert.“ Wie verrückt ist Ihre Isa?

Wir haben uns nicht auf den pathologischen Teil des Verrücktseins bezogen. Ihre schonungslose Auseinandersetzung mit sich selbst im Gegensatz zur Welt, die durch keine gesellschaftlichen Normen weichgespült ist, die sehr pur ist, führt doch zwangsläufig dazu, dass sie, oder im übertragenen Sinne man verrückt werden muss. In dieser schonungslosen Sicht liegt für mich eine Wahrheit, die wunderschön und schwer ertragbar zugleich ist. Das berührt mich so an diesem Text.

Worin zeigt sich diese Schonungslosigkeit?

Dass sie jede mögliche Frage zu unserer Existenz zur Disposition stellt, mit dem glasklaren Blick auf unsere Vergänglichkeit. Diese offene Sicht auf sich und sein Leben, auf sein Ich im und im Gegensatz zum Universum, die Frage, ob es dieses Ich überhaupt gibt, ob Erinnerungen wirklich sind, ob sie irgendwann zu einer reinen Projektion werden und was das eigentlich alles für einen Sinn macht – wenn man all diese Fragen wirklich lebt, ist es eine große Herausforderung. Ich weiß noch, als ich ungefähr sechs war, habe ich meinem Vater mal beim Abendessen all diese Fragen gestellt: Was war, bevor ich auf der Welt war, und was wird sein, wenn ich nicht mehr da bin? Wie groß das Universum ist, wo es aufhört und was dahinter ist? Und wann das Universum überhaupt angefangen hat, ein Universum zu sein, und wann es wieder aufhört? Weil, unendlich gibt es doch nicht. Mein Vater hat auf meinen Teller gezeigt und gesagt: Schau dir den Rand an – wo ist da der Anfang und das Ende? Ich sagte: Gibt es nicht. Er sagte: Genau.

Da hat er sich elegant aus der Affäre gezogen.

Ja, Glück gehabt. An diesen Fragen, die wahrscheinlich jedes Kind irgendwann stellt, kann man doch eigentlich nur verrückt werden, oder?

Ja, das klappt auch bei Erwachsenen immer wieder gut.

Und das sehe ich in der Verrücktheit dieser Figur, es ist ihre pure und schonungslose Art, diesen Fragen wirklich zu begegnen.

Isa wird auch sexuell belästigt. Darauf reagiert sie erstaunlich nüchtern. Ist das ein Zeichen ihrer Verrücktheit, dass sie nicht einordnen kann, was es bedeutet?

Ich sehe es eher als eine noch unfertige Auseinandersetzung mit traumatischen Erlebnissen, frei von jeglichem Selbstmitleid, auf der Suche nach der Bedeutung. Ich finde, es ist eine ganz große Qualität dieser Erzählung und dieser Figur, dass sie es uns überlässt, was wir darüber denken sollen. Ich kann all diese Begegnungen und Geschichten mit mir in Verbindung bringen. Diese unsentimentale Art der Beschreibung gibt mir Raum für Identifikation.

Isa sagt, ihr Vater sei von einem Meteoriten erschlagen worden. Wie weit kann man denn Isa glauben? Was ist Wahrheit, was ist erfunden?

Die Frage stelle ich mir persönlich auch immer wieder. Erinnerungen, die mir sehr lebendig erscheinen, sind wie alles andere, was ich sehe, denke und fühle, ja nur Interpretationen von mir. Da wir Menschen voll sind von Erwartungshaltungen und Projektionen, Bedürfnissen, Sehnsüchten, Vermeidungsstrategien, stellt sich auch ganz ohne pathologisches Verrücktsein die Frage, wie sehr unsere Erinnerung mit den Fakten übereinstimmen. Eingefärbt sind sie allemal.

Es ist eine große Ausnahme, dass Sie Theater spielen. Zuletzt standen Sie vor einem Jahr in den Hamburger Kammerspielen auf der Bühne.

Ich habe mich auf den Film konzentriert, nicht weil mich das Theater nicht interessiert hätte, sondern weil die Angebote für mich zu spannend waren und es unmöglich war, beides organisatorisch zu vereinen. Sven Grunert und ich sind aber die ganze Zeit in Kontakt geblieben. Die Entscheidung, ein Ein-Personen-Stück zu spielen, hatte erst mal rein logistische Gründe, das hat uns das Maximum an Flexibilität gegeben.

Entwickelt man sich beim Theater eher weiter als beim Film?

Ich habe damals die Entscheidung für mich getroffen, nach der Schauspielschule erst mal ans Theater zu gehen, weil ich überzeugt war, dass ich nur dort lernen kann. Ich habe beim Film aber auch junge Leute, große Talente, kennengelernt, die keine Schauspielschule besucht haben, direkt angefangen haben zu drehen und durch die Arbeit vor der Kamera eine große Entwicklung gemacht haben. Es ist die Frage, was man sucht. Ich habe das Theater gebraucht, um mich erst mal freizuspielen, um zu begreifen, dass man, egal, welche Weltliteratur man vor sich liegen hat, seine eigene Interpretation, seinen Ausdruck finden muss. Dass man sich die Frage stellen kann und soll, was ich persönlich mit einem Text sagen möchte. Und man hat am Theater den Raum, sich auszuprobieren, mit den Kollegen und dem Regisseur. Man geht gemeinsam auf die Suche – ich empfinde das immer noch als ein Privileg.

Interview: Philipp Seidel in der Landshuter Zeitung vom 25. Januar 2019

Interview mit Julia Koschitz und Sven Grunert zu „BILDER DEINER GROßEN LIEBE“ – Inszenierung 2019

Kinostar Julia Koschitz spielt die Isa unter der Regie von Sven Grunert. Elke Krüsmann sprach mit ihnen über ihre gemeinsame Arbeit.

Wo seid Ihr Euch zum ersten Mal begegnet?

Julia Koschitz: Bei einem Vorsprechen am kleinen theater vor 14 Jahren, das dann auch zu mehreren gemeinsamen Produktionen geführt hat. Sven hat mich damals künstlerisch abgeholt und wurde in der Zeit für mich eine Art Mentor. Diffuse Ahnungen, die ich schon hatte, haben sich durch unsre Zusammenarbeit konkretisiert. Ich habe viel von ihm gelernt.

Sven Grunert: Ich war auf der Suche nach einer Darstellerin der Abby in Neil LaButes 9/11-Stück „Tag der Gnade“. Julia hat eine starke suggestive Kraft, die mir damals sofort auffiel, eine Vielschichtigkeit, die mich zum Träumen gebracht hat.

Wolfgang Herrndorf wird von vielen Lesern sehr geliebt.Wie geht es Euch mit seinen Texten?

SG: Die Dichte und Knappheit seiner Sprache entfaltet einen Sog. Du wirst ganz schnell auf eigene Bilderwelten zurückgeworfen. Du verstehst auf einmal den Himmel im Herzen.

JK: Alles was ich bisher von ihm gelesen habe ist von großer Klarheit, Klugheit und Komik. Das gilt auch für „Bilder deiner großen Liebe“. Ein Stoff, der sich, wie ich finde, mit den universellen Fragen des Seins auseinandersetzt.

Wie seht Ihr die Figur der Isa?

SG: Sie repräsentiert den kindlichen Anteil in uns. Bei Isa sehe ich immer diese russische Holzpuppe, diese Matrjoschka, vor mir. In der großen stecken viele kleinere. Zuerst hältst du die Oma in der Hand. Darunter kommt die erwachsene Frau zum Vorschein, dann die junge Frau und das Kind. Ich möchte mit dem arbeiten, was ein Schauspieler an biografischen Erfahrungen mitbringt, seinem Wesenskern. Regie zu führen bedeutet nicht, jemanden dazu zu bringen, sich zu verstellen. Kunst ist Enthüllung – nicht Verstellung.

JK: Mir geht es, eigentlich wie bei jeder anderen Rolle auch, eher um den „Isa-Anteil“ in jedem von uns. Dabei kann man sich in der Erarbeitung einer Figur entweder von außen nach innen oder von innen nach außen annähern. Entweder versuche ich, sie erstmal aus meinen persönlichen Erfahrungen heraus zu verstehen und finde daraus eine Form, oder ich komme über einen formalen Ansatz zum Kern der Figur.

Damit Kunst den Zuschauer mitten ins Herz trifft, darf man keine Kompromisse machen. Verbindet Euch diese Haltung mit Wolfgang Herrndorf?

JK: Ob man jemanden emotional oder intellektuell erreichen möchte – ich glaube, dass das Geheimnis die Genauigkeit ist. Die Genauigkeit eines Gedankens, den man vermitteln möchte. Die muss man sich erarbeiten. Sven ist ein Regisseur, der viele Umwege macht, um dann zu einer einfachen Lösung zu kommen. Die Reduktion, das scheinbar Einfache und Klare ist das Schwierigste, dafür braucht es genau diese Umwege.

SG: Damit diese Grenzgänge funktionieren, brauchst du intelligente Schauspieler, die emotional und mental ein starkes Gegenüber sind. Dann macht man gemeinsam Erfahrungen, die einen als Mensch weiterbringen. Eine kreative Leistung, die am Ende ganz einfach aussieht, entsteht in einem hoch komplexen Prozess.

Biografie JULIA KOSCHITZ

Ihre Spezialität: komplexe, facettenreiche Figuren. Julia Koschitz, geboren 1974, lernte ihr Handwerk auf der Bühne. Die vielseitige Verwandlungskünstlerin spielte in zahlreichen Fernseh- und Kinofilmen mit, u. a. in zwei „Tatort“-Folgen und in der Speed-Dating-Komödie „Shoppen“. Sie wurde für ihre Arbeit u. a. mit dem Bayerischen Fernsehpreis und dem deutschen Schauspielerpreis ausgezeichnet. Seit 2004 gastiert sie immer wieder am kleinen theater – KAMMERSPIELE Landshut. Dort feierte sie große Erfolge in den Inszenierungen von Sven Grunert, u. a. in „Antigone“ von Sophokles (eingeladen auf das Europäische Theaterfestival nach Hermannstadt) und als Titelheldin in Ibsens „Nora“. Für diese Rolle erhielt sie bei den Bayerischen Theatertagen 2006 den Darstellerpreis.

Sven Grunert im Interview mit Christoph Leibold zur Inszenierung von „Der Sturm“
(in: Radio Bayern2 – Kulturleben vom 28. Januar 2016)

Leibold: So kurz vor der Premiere, geht’s da in Ihnen auch noch stürmisch zu oder ist die Inszenierung auf Kurs, haben sich die Wogen der Proben schon geglättet?

Grunert: Die Wogen der künstlerischen Suche haben sich geglättet und jetzt geht es darum, die letzten Höhenmeter zu erreichen und das ist dann immer der spannenste Weg, weil man mit Ruhe und Gelassenheit arbeiten muss, um dann in den Feinheiten noch den letzten Schliff zu setzen.

Leibold: Prospero, der am Ende der Zauberei abschwört, in dem sehen viele Shakespeare selbst , der sozusagen den Dienst als Dramatiker quittiert. Haben Sie den Sturm auch ausgewählt, weil es einfach passt, sein letztes Stück im Gedenkjahr des vierhundertsten Todesjahres zu inszenieren oder was war für Sie ausschlaggebend für die Stückwahl?

Grunert: Das Stück ist etwas ganz besonderes, weil man weiß, es ist das letzte Werk von Shakespeare und es hat natürlich vieles, was er als Schriftsteller, als Dramatiker in seinem Werk entwickelt hat. Das hat er da auch einfließen lassen. Es ist sehr diffizil und in dem Formreichtum, in dem Wechselspiel zwischen Drama, Tragödie und Komödie hoch interessant und man muss eben aufpassen, dass das Feingeistige im Text und in der Literatur nicht verloren geht.

Leibold: Man muss jetzt Prospero nicht zwingend mit seinem Schöpfer Shakespeare gleichsetzen, aber „Der Sturm“ ist schon ein Stück über die Macht der Phantasie und wie ich Ihre Arbeit als Regisseur kenne und einschätze, wird das eine Rolle spielen bei Ihnen.

Grunert: Ja, ich versuche, dass es gewisse Möglichkeiten der Erfahrung auf der Bühne gibt, wo man merkt, man ist fast im Kopf ein Prospero. Und es ist tatsächlich so, auch den Ariel habe ich versucht so zu inszenieren, dass die Muse, seine Inspiration, sein äußeres Erleben von Prospero, was sich im Luftgeist Ariel verkörpert. Man kann sie eigentlich gar nicht trennen, das ist so ein bisschen wie und es hat so etwas von Faust und Mephisto und die verkörperte Form seines Erlebens hilft ihm, die Widersacher seines Lebens zurückzuholen. Er holt sie zurück in seine Welt und arbeitet sich an Ihnen ab, indem er seine Widersacher durch einen Parcour der Prüfungen wirft und sie mit den dunklen Seiten ihres Wesens konfrontiert werden und am Schluss auch teilweise dem Wahnsinn gegenüberstehen und dann Prospero die Genugtuung hat, und lernt zu vergeben und das ist das ganz Wichtige, dass wir erleben, wie dort ein Mensch es schafft, seine Wut und seinen Zorn und seine Verzweiflung abzuarbeiten, um am Schluss alle in Freiheit zu entlassen durch Vergebung. Das ist mein mentaler Ansatz gewesen, den ich versucht habe, in der Inszenierung umzusetzen.

Leibold: Prospero ist ja auch ein Exilant, einer, der auf einer Insel Zuflucht genommen hat. Gleichzeitig ist er auch ein Kolonisator, der sich Ariel und Caliban untertan gemacht hat . Da stecken auch viele Anknüpfungspunkte an das aktuelle Weltgeschehen drin. Viele Theatermacher suchen gerade händeringend nach solchen Bezügen in den alten Stoffen und Stücken. Das scheint mir aber bei Ihnen aber weniger eine Rolle zu spielen.

Grunert: Doch, es geht im Wesentlichen auch um die Usurpation. Es geht da drum, was passiert, wenn ich unrechtsmäßig die Herrschaft über Menschen ausübe, das kann aber auch die Herrschaft im Feinpsychologischem wie auch im alltäglichen Leben sein. Die Gier nach Kontrolle, was dann dazu führt, dass man mit der Macht und auch mit der dunklen Seite unserer Natur konfrontiert wird. Das wird sehr stark ausgeleuchtet und das sind Aspekte, die sind hochaktuell und sind dann spannend mit anzusehen.

Leibold: Nochmal zum Thema Tod. Prospero spricht im Stück ja berühmte Sätze, die eigentlich zum geflügelten Wort geworden sind, vom Stoff, aus dem die Träume sind , im Englischen „We are such a stuff as dreams are made on and our little life is rounded with a sleep.“ Engländer lassen sich das gerne auch den Grabstein schreiben. Ist es auch ein Stück über Tod und Abschied?

Grunert: Auf jeden Fall ist es auch ein Geheimnis. Man weiß ja nicht, was mit dem Prospero geschieht. Er wird die Insel verlassen. Das ist zumindest ein Tun seiner Identität, die er 15 Jahre auf der Insel getätigt hat. Natürlich, dieses Werk wirft uns auf ganz tiefe Lebensfragen zurück, die uns als Menschen ausmachen und das wird in dem Stück sehr stark ausgelotet und damit sind wir auch natürlich mit diesen großen Fragen konfrontiert von Abschied, Leben, Vergebung und Tod.

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