Unser Auftaktstück zum 30. Jubiläum
WEM GEHÖRT UNSER LEBEN?
GOTT
VON FERDINAND VON SCHIRACH
90 MINUTEN, KEINE PAUSE
DAS STÜCK
Ferdinand von Schirach: Schriftsteller, Jurist, Meister der knappen Sätze und ausgesprochenen Wahrheiten. Bekannt geworden durch die polarisierenden Romane „Verbrechen“, „Schuld“, „Die Würde ist antastbar“ und das Theaterstück „Terror“, bei welchem am Schluss das Publikum als Jury fungiert.
Der Ethikrat tagt. Was gebietet der hippokratische Eid und ist er veraltet? Ist Medizin eine Dienstleistung? Eine Berufung? Sind Heilung oder bedingungslose Hilfe Sinn und Zweck des Arztberufs? Schweigen. Ist unser Leben immer noch heilig? Man fragt einen Bischof, ob Jesus für unsere Sünden freiwillig starb. War Jesus… suizidal? Ist Selbstmord egoistisch und wem geht es schlechter: dem Gestorbenen oder den Angehörigen? Wer trifft die Entscheidung, ob jemand gehen darf: der Mensch oder das System? Die Fragen überfordern die herkömmliche Moral, diese Fragen überfordern die Figuren. Man verliert sich in philosophischen Diskussionen und ist von der Wahrheit weiter entfernt als je zuvor. Über manche Dinge mag man nicht nachdenken. Klar ist nur eins in „Gott“: Das Leben ist ein Geschenk. Und Geschenke darf man zurückgeben, nicht wahr?
Vorsitzende: „Meine Damen und Herren, ich eröffne diese Sitzung des Ethikrates, sie ist öffentlich. Ganz herzlichen Dank, dass Sie heute gekommen sind. Der Rat ist dieses Mal auf eigenen Entschluss tätig geworden.“
ES SPIELEN:
Frau Gärtner: PETRA EINHOFF
Vorsitzende des Ethikrates: LOUISA STROUX
Brandt (Augenarzt): RUDI KNAUSS
Biegler (Anwalt): JULIUS BORNMANN
Litten (Rechtssachverständige): KATJA AMBERGER
Keller (Mitglied des Ethikrates): ANNA SCHUMACHER
Sperling (Mediziner): SVEN HUSSOCK
Thiel (Bischof): ANDREAS SIGRIST
REGIE:
SVEN GRUNERT
DRAMATURGIE & TEXT:
GANNA MADIAR
DR. KONSTANZE CAYSA
BÜHNE:
HELMUT STÜRMER
KOSTÜME:
IRINA KOLLEK
REGIEASSISTENZ:
LEA SPRENGER
MASKE:
SANDRA BRUNNER
REQUISITEN:
JASMIN GRAN
TECHNIK / LICHT:
MICHELE LUPI
LIVE VIDEOSCHNITT / TON:
ALONA DOMASHEVA
PREMIERE:
7. OKTOBER 2022
PRESSESTIMMEN
FACHKRITIK
Es ist die pure Nüchternheit, die einen empfängt. Graue Quadrate, die eine Rückwand bilden und an abgehängte Decken von Großraumbüros erinnern. In akkurater Geometrie aufgestellte Tische, Laptops darauf, grauer Boden. All das signalisiert Distanz, Kühle, Rationalität. Doch innerhalb kurzer Zeit wird es ein Raum, in dem Hüllen fallen und es um eine große Frage menschlichen Lebens geht – eine universelle Frage, die die Menschen seit Jahrtausenden beschäftigt: Darf man einem anderen Menschen dabei helfen, sich umzubringen? In „Gott“ wird diese Frage noch auf die Spitze getrieben. Es ist kein Mensch, der schwer krank ist oder an tiefer Depression leidet. Frau Gärtner ist ein Mensch, der nicht mehr leben möchte. Weil sie nach dem Krebstod ihres Mannes keinen Lebenssinn mehr findet.
In der Kühle des Raums kommt der Ethikrat zusammen. Die graue Wand wird zur Videoleinwand, auf der immer wieder abwechselnd die Gesichter der Protagonisten auftauchen: grau, schattig – völlig reduziert.
Es werden emotionale Wortgefechte und nüchterne Analysen gefahren. Und jeder ist nicht nur Repräsentant einer Institution, einer gesellschaftlichen Haltung, sondern auch Repräsentant eigener Geschichte, Widersprüche und Sehnsüchte. Der präzise und analytische Herr Biegler kann der Versuchung nicht widerstehen, zu polemisieren, um andere herabzusetzen und mit seiner Eloquenz zu leuchten. Der Vertreter der Bundesärztekammer ist völlig dem Standesdünkel und der Bräsigkeit seiner machtvollen Institution verfallen. Ein Bischof, der den Eindruck vermittelt, als würde er auch darum kämpfen, die Erschütterung der Kirche mit seiner eigenen Biografie in Einklang zu bringen. Es entsteht Dynamik, immer wieder Tempo, Bewegung im Raum.
Die Besetzung ist unheimlich stimmig.
Kommt die Inszenierung zur rechten Zeit? Unbedingt. In einer Zeit, in der die Diskursfähigkeit und die Fähigkeit, Dinge auch auszuhalten, immer mehr verloren geht, ist das ein Stück, das die Schwierigkeit gesellschaftlicher Wahrheitsfindung in vielen Facetten zeigt. Und das deutlich macht, wie entscheidend das Gehörtwerden ist..
Redakteur Emanuel Socher-Jukić